Von der Armutsbewegung zu den humanitären Korridoren

Giorgio Girardet

In Torre Pellice predigte Moderatora Alessandra Trotta, anlässlich des Freiheitsfestes am 17. Februar und in Zürich präsentierte am 25. Januar Paolo Naso, Professor für Geschichte der Universität Rom im Zwinglihaus die neu erschienene vierbändige Geschichte der Waldenser. Damit hat das 850-Jahr-Jubiläum der Waldenserkirche südlich und nördlich der Alpen begonnen.

 

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Im nunmehr 850 Jahre zurückliegenden Jahr 1174 fasste in der reichen Handelsstadt Lyon Valdes, ein reicher Mann, den Entschluss mit der christlichen Botschaft ernst zu machen: Armut und Verkündigung des Evangeliums. Zehn Jahr später gerieten die «Armen von Lyon» oder eben «Waldenser» ins Visier der päpstlichen Inquisition. Der waldensischen Ketzerei verfallen sei er, beschuldigte der Papst den aufmüpfigen Mönch Martin Luther 350 Jahre später. Darum wurde «Petrus» Waldes 1867 im Reformationsdenkmal in Worms als ein Vorläufer der Reformation Martin Luthers in Bronze gegossen. Wer sind die Waldenser?

Eine Jubiläumsaustellung im Waldensermuseum in Torre Pellice ist dem sich wandelnden Bild des Ahnvaters der Armutsbewegung «Petrus Waldus» in der Geschichtsschreibung gewidmet. Pünktlich zum 17. Februar, dem Freiheitsfest der Waldenser, sind die Bände zwei und vier der vierbändigen neuen Waldensergeschichte erschienen. Am Festgottesdienst in Torre Pellice eröffnete die Moderatora (Kirchenratspräsidentin) der Tavola Valdese, Diakonin Alessandra Trotta, predigend das Jubiläumsjahr.

Des Heiligen Franziskus verketzerter Kollege

Valdes verkaufte in den 1170er Jahren in der reichen Messe- und Handelsmetropole Lyon, in welcher auch viele Arme lebten, seinen Grundbesitz und liess mit dem Erlös nicht nur die Armen speisen, sondern auch Teile der Bibel in die Volkssprache übersetzen. Als die «Armen von Lyon» zogen seine Anhänger bald bettelnd durch Italien und predigten das auswendiggelernte Evangelium in der Volkssprache. Erst vom Bischof von Lyon unterstützt wurden sie ab 1184 an Konzilien zur Häretiker-Sekte erklärt. Die Papstkirche verketzerte die populären «Waldenser», wie nun die Anhänger Valdes genannt wurden. Die Armutsbewegung und die im Volk populäre «Imitatio Christi» (Nachfolge Christi) kanalisierte Papst Innozenz III. indem er der Gemeinschaft des Franziskus von Assisi 1209 die Ordensgründung gestattete. Valdes aber starb vor 1216 als Gründer einer verfolgten Ketzerbewegung.

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850 Jahre in vier Bänden

Die erst zur Hälfte erschienene Waldensergeschichte umfasst Beiträge evangelischer, katholischer, jüdischer und säkularer Historiker, Theologen, Anthropologen, Geographen und Volkskundler. Der erste Band behandelt die Zeit von Valdes` Berufung bis zur Synode von Chanforan 1532. Damals schlossen sich die in den Waldensertälern des Piemont verschanzten bärtigen Waldenser-Berghirten («Barba») der süddeutschen Zwingli-Reformation an. Der zweite Band behandelt den Weg der Waldenser – nun Teil des calvinistischen, reformierten Europas – durch die Zeit der Glaubenskriege bis zur 1689 erfolgten heroischen Remigration («il glorioso rimpatrio») der in die Schweiz vertriebenen Waldenser unter der Führung des Pfarrers und Obersten Henri Arnaud (1643–1721). Der Dritte Band beleuchtet den Gang des mit der Schweiz, den Niederlanden und England vernetzten reformierten «Ghetto» in den Waldensertäler und der Aufbruch und Aufschwung, welcher der britische Offizier Charles John Beckwith (1789–1862) durch die Einrichtung von Volksschulen für Mädchen und Knaben diesem ab 1828 gab. König Karl Albert von Sardinien und Savoyen öffnete am 17. Februar 1848 das «Ghetto» der Täler und verlieh seinen protestantischen Untertanen und wenige Tage später auch den Juden im Piemont die bürgerlichen Rechte. Aber erst nach 1870, mit der Eroberung der Stadt Rom als neuer Hauptstadt Italiens, – und hier setzt der vierte Band ein – konnte sich der Auftrag, den Charles Beckwith den Waldensern mitgab «Ihr seid Missionare, oder ich seid nichts» im Königreich der Savoyas in Evangelisationsarbeit verwirklichen. Durch erster Weltkrieg, Faschismus, Partisanenkämpfe 1943-45 begleitet der letzte Band die Waldenser in den Aufbruch der Nachkriegszeit, den der charismatischen Pfarrer Tullio Vinay (1909–1996) mit 1946 der Gründung des Jugend-Tagungszentrum Agape in Prali und des Servizio Cristiano Riesi 1961 auf Sizilien prägte. Mit dem Jahr 1990 endet die Darstellung im letzten Band.

Kontinuum jenseits von Mythen und Legenden

«Dies ist eine Geschichte über die Waldenser, aber nicht für die Waldenser, sondern für Italien, ja für ganz Europa», charakterisierte Professor Paolo Naso, Herausgeber des vierten Bandes, in Zürich das Werk abschliessend. Seine Präsentation vor den Mitgliedern der Waldenserkirche Zürichs leitete er mit der Mahnung ein: «Für viele uns Waldenser liebgewordene Vorstellungen, die wir auch in Denkmälern und Bildern feiern, finden wir in den Dokumenten nicht die nötige Basis». Die Realität der Waldensergemeinden in den ersten Jahrhunderten ist fast nur in den Akten der Inquisition verschriftlicht. «Waldenser» war ein Feindstereotyp, das die Inquisition schnell irgendwelchen unbotmässigen Individuen überstülpte. So spricht Paolo Naso von der Waldensergeschichte als einer Karstquelle, die auftritt, versickert und überraschend wieder zutage tritt. «Es ist besser von den ‹Waldensereien› als von einer als breitem Storm dahinfliessenden Waldensergeschichte sprechen.» Dennoch lasse sich von der Armutsbewegung des 12. Jahrhunderts bis zur vor wenigen Jahren gelungenen Errichtung der «humanitären Korridoren» durch die Waldenser in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche Italiens eine Kontinuität in der Haltung und Hinwendung zu den Bedürftigen erkennen.

 

 

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